Der Andere

Eine Gemeinschaftsarbeit von Arne Menzel und Ulrich Behr

Gezeigt wurde diese Arbeit 2010 im Künstlerforum in Bonn bei der Ausstellung "Schön ist was anderes"


Lachen über „Den Anderen“?

Wir (die meisten von uns) sind so konditioniert, dass wir schon die minimalste Veränderung der Mimik erfassen und deuten können. Die über Mimik ausgedrückte Gemütsverfassung zeichnet in hohem Maße das lebendige und menschliche unseres Gegenübers aus.
Zieht man nun, vor dem statischen Bildnis Adolf Hitlers stehend, an den 14 Seilzügen, beginnt das „Muskelspiel“ unter seiner mit Zwiebelschalensud gemalten Lycrahaut. Der Strippenzieher kann je nach Intensität der Zugkraft auf dem Gesicht des Reichskanzlers bloß ein müdes Lächeln erzeugen oder es bei starkem Zug zur unmenschlichen Grimmasse verzerren. Erstauntes Augenbrauen hochziehen, Nase rümpfen oder eine Zornesfalte erzeugen – all das liegt in der Hand des Akteurs (der zugleich der Betrachter ist).
Über das Ziehen an den Seilzügen bekommt „Der Andere“ auf unheimliche Weise Leben eingehaucht und kann gleichzeitig der Lächerlichkeit preisgegeben werden. So wird der Führer auf das menschliche Wesen reduziert, das er zu Lebzeiten war. Die Überhöhung zum genialen Staatenlenker, zum unverfrorenen Verführer und schlussendlich zum blutrünstigen Monster wird ihm somit verweigert – auch wenn sie unterbewusst mitschwingen mag und auf diese Weise ein komisches Gefühl hinterlässt.  Text Arne Menzel


Ulrich Behr & Arne Menzel

Interaktive, kinetische Installation, Spannrahmen-Bild: 216 x 324 cm

Zwiebel-Schalen-Sud auf Lycra, Holz, Schnur und verschiedene Installationsmaterialien, 2010

Auf den Bildern sieht man "Der Andere" in verschiedenen Zuständen, die durch das Ziehen an 14 verschiedenen Seilzügen vom Betrachter als Akteur hervorgerufen werden können.


Zur Ausstellung ist eine Katalog erschienen. Neben zahlreichen Abbildungen und meinem Text (oben), ist darin der unten stehende Text, verfasst von Ulrich Behr zu lesen:

Ein Ausgangspunkt für die Arbeit "Der Andere" war die Überlegung/Erkenntnis, dass bei der Betrachtung eines menschlichen Antlitzes ähnliches geschieht, wie beim Anblick des eigenen Spiegelbildes.

Das eigene Gesicht im Spiegel zu betrachten regt uns an, die Person "dort im Spiegel" auszuforschen. Wir beginnen über uns selbst nachzudenken, als wären wir jemand Anderes.


Auf ebensolche Weise suchen wir forschend im Antlitz eines Gesprächspartners, beginnen unser Gegenüber zu taxieren, wollen seine Persönlichkeit erforschen, seine Absichten ergründen. Wir nehmen hierfür unsere Erfahrungen aus anderen Begegnungen ebenso zur Hilfe, wie auch unsere eigenen Absichten und Empfindungen als Referenz. Wir lesen in unserem eigenen Inneren – wir loten den Widerhall („das Echo“), den die Begegnung in uns hervorruft aus,... und meinen schließlich unser Gegenüber einschätzen zu können.

An dieser Stelle tritt die aus der Griechischen Mythologie entstammenden Geschichte des Narziss in unser Bewusstsein:
"Zwei Verwandlungsgeschichten kreisen um die Nymphe Echo. Berühmt ist vor allem jene, in der ihr geschwätziges Reden die Göttin Hera so lange ablenkt, das eine Liebesaffäre des Zeus von ihr unentdeckt bleibt. Zur Strafe bringt Hera Echo dadurch zum Schweigen, dass sie ihre Äußerungen auf die letzte Silbe dessen reduziert, was der andere gesagt hat. Echo verliebt sich in Narkissos, den schönen Sohn des Flussgottes Kephissos, doch als sie versucht ihn zu verführen, kann sie immer nur seine letzten Worte wiederholen. Echo vergeht vor Gram, bis von ihr nur noch der Widerhall übrigbleibt. Sie verflucht Narkissos, der später an einen Teich kommt, sein Spiegelbild sieht und sich darin verliebt.
Da er es nicht besitzen kann, vergeht auch er vor Gram. Als er stirbt, verwandelt er sich in eine Narzisse."

[Dr. Simon Goldhill im "Bertelsmann Handbuch MYTHOLOGIE", S. 165]
“Eine weitere Version berichtet: Narziss verliebt sich in sein Spiegelbild - nicht erkennend, dass es sein eigenes ist, will er sich mit diesem Spiegelbild vereinigen und ertrinkt bei dem Versuch." [Wikipedia/Narziss]



Beim Anblick eines Gesichtes schalten wir um auf einen "emphatischen Blick". Wir versuchen mit Hilfe unseres Einfühlungsvermögens abzuschätzen, inwiefern das Gegenüber zu uns in Beziehung treten könnte. So versucht Narziss in der Legende ja auch beim Anblick seines Antlitzes mit dem erblickten “Wesen” in Beziehung zu treten, nicht erkennend, dass er selbst es ist. Diese Eigenschaft mit dem Gegenüber in Beziehung zu treten, ist solchermaßen stark ausgeprägt, dass sie sogar artenübergreifend z.B. zwischen Mensch und Hund zu wirken vermag. Dies führt nicht selten zu einer intimeren und verbindlicheren Beziehung als zu so manchem eigenen Artgenossen. So überrascht auch kaum das Zitat von Hitlers Sekretärin Traudel Junge aus ihren Erinnerungen: “Hitler hatte das größte Vergnügen, wenn Blondi wieder ein paar Zentimeter höher springen konnte [...], und er behauptete, die Beschäftigung mit seinem Hund sei seine beste Entspannung.”


Erstaunlicher Weise scheint dieses psychische Phänomen jedoch nicht nur auf lebende Wesen zu zutreffen, sondern auch auf Abbilder - gleich, ob es sich um ein Foto handelt oder auch ein Gemälde. So auch in Oscar Wildes Roman “Das Bildnis des Dorian Gray”, in welchem das Gemälde des Dorian Gray auf magische Weise an seiner statt altert.

Das Erkennen des eigenen Spiegelbilds wird in einem Test in der Regel dann als nachgewiesen angesehen, wenn ein Tier gegenüber dem Spiegelbild versucht, hinter das Spiegelbild zu gelangen oder vor dem Spiegel mehrfach bestimmte Bewegungsabläufe wiederholt, also wenn das Tier bemerkt, dass es sich selbst im Spiegel sieht.

Oscar Wildes Roman “Das Bildnis des Dorian Gray” illustriert auf faszinierende Weise das Thema des Narziss-Mythos. Die Spaltung vom “Ich” und dem eigenen Spiegelbild ist vollzogen.


Eine der Ursachen einer in solcher Art gespaltenen Einheit der Persönlichkeit wird auch in der Psychologie mit dem Mythos des Narziss assoziiert. Ein in der Kindesentwicklung beobachteter Entwicklungsschritt wird entsprechend das “Spiegelstadium” genannt. War das Kind zuvor noch symbiotisch mit seiner Außenwelt - v. a. in Form der Mutter(brust) - verbunden, beginnen sichnun Ich und Nicht-Ich voneinander zu trennen. Das Kind erfährt sich, durch sein sich-selbst-im-Spiegelbild-erkennen, zum ersten Mal als autonomes, kohärentes, vollständiges Lebewesen.



Heute verweigert gewiss die überwiegende Mehrheit der in Deutschland lebenden Bevölkerung, Adolf Hitler als Teil der eigenen (deutschen) Identität anzuerkennen. In den Jahren von 1933 bis 1945 war Adolf Hitler jedoch noch selbstverständlicher Teil einer deutschen Identität!

.... Wie ist dieses Phänomen eines solch plötzlichen Identitätswandels zu bewerten?

.... Wirkt Hitlers Antlitz auch weiterhin als kollektives Spiegelbild deutscher Identität - auch ohne, dass wir es wünschen? - Betrachte ich mein eigenes (kollektives) Spiegelbild, wenn ich in das Antlitz Adolf Hitlers schaue?

.... Haben wir überhaupt einen willentlichen Einfluss auf die Parameter unserer eigenen Identität?

So stellt sich schließlich die Frage, ob bei der Ausbildung der eigenen Identität nur unser eigenes Selbstverständnis die entscheidende Rolle spielt... oder ist es auch der Blick von außen, mit dem man z.B. bei einem Besuch im Ausland konfrontiert wird?

Das Thema Adolf Hitler ist schambesetzt, es zu verdrängen liegt nahe und somit einer Frage von kollektiver Schuld und von eigentümlich persönlich

empfundenem Schuldgefühl auszuweichen.

Im Verteufeln der Person von Adolf Hitler meinen wir unser Dilemma gelöst zu haben. Hitler wird zum Verführer der (an sich "guten") Deutschen und somit machen wir ihn zum Sündenbock. - Aus Verbrechen "im Namen des Deutschen Volkes" werden "NS-Verbrechen". "Die guten Deutschen" werden idealisiert, und das sind WIR. - "Die bösen Deutschen" das sind DIE ANDEREN - (die Nationalsozialisten), und die werden zu Monstern erklärt.Können wir einen solch durchsichtigen und einfältigen (kollektiv-) psychologischen Mechanismus hinnehmen?


NACHTRAG


In einer in solcher Weise gespaltenen Betrachtung der eigenen Herkunft und dem damit einher gehenden "zurechtbiegen" einer deutschen Identität hat ein ungesunder Narzissmus bereits wieder die Oberhand gewonnen. Eine Tabuisierung und die Abgrenzung Hitlers zu etwas Fremden "DEM ANDEREN" führt uns wieder genau dort hin, wo alles begann...!


Es stellt sich uns daher die Frage nach einer Umbewertung eines historisch gewachsenen Konsens:

 

War und ist Adolf Hitler ein politisches Problem oder handelt es sich nicht vielmehr ein um (kollektives) psychisches Phänomen? - Ein psychisches Phänomen, das in den Tiefen unseres Unterbewusstseins weiterwirkt und durch die radikale Abspaltung der finstersten Teile unserer Geschichte eine ernsthafte Auseinandersetzung verhindert.